Petra Lies / Lilo. Ich tue, was mir Freude macht. Singen und Schreiben.    

Der Brief

Ich sitze auf dem Boden. Vor mir eine Holzkiste, die bis zum Rand mit Knöpfen gefüllt ist. Du hast sie mir gegeben und dich dann wie immer still auf deinen Stuhl, neben dem großen Fenster gesetzt. Selten hast du wirklich mit mir gesprochen. Hast einfach nur dagesessen, aus dem Fenster geschaut oder mich dabei beobachtet, wie ich ein Knopf nach dem anderen , mit meinen kleinen Händen, aus der Kiste holte und sie zu meinen Knien nach Größe und Farbe sortiert habe. Die Schwarzen legte ich immer gleich zur Seite. Ich mochte sie nicht! Sie waren dunkel und hässlich. Die kleinen Bunten reihte ich zu einer Linie auf. Das sah lustig aus und manchmal konnte man mich lachen hören, wenn ich sie so zusammenlegte, dass sie aussahen wie eine Blume. Am liebsten aber waren mir die Perlmuttknöpfe. Sie waren mein größter Schatz. Ich hielt sie immer länger in meinen Händen, als die anderen. Schön sahen sie aus und, wenn ich mit meinen Fingern darüber strich, waren sie warm und so unsagbar glatt. Ich stellte mir immer vor, wie wunderschön sie an meinem Kleid oder an meiner Jacke aussehen würden und du hast mich angelächelt, wenn ich in diesem Moment zu dir sah und gesagt<< die magst du leiden nicht wahr? << Ich nickte jedes Mal und war so stolz darauf, dass sie mir gehörten. Manchmal bist du aufgestanden und hast aus einer anderen Kiste einen Wollknäuel und eine dicke Nadel geholt. Mit einer großen Schere, die du immer zum Nähen benutzt hattest, hast du dann einen langen Faden abgeschnitten und ihn durch das Nadelöhr gezogen. Wenn du fertig warst, hast du ihn mir gegeben und mich ermahnt << pass auf, dass du dich nicht stichst.<< Ich strahlte über beide Wangen und schenkte dir mein schönstes Lächeln, denn ich wusste, dass nur ich mit deinen Knöpfen spielen durfte – es war unser Geheimnis. Stolz und vorsichtig zog ich dann einen nach dem anderen Perlmuttknopf auf den Faden, während du in der Küche warst und Kaffee für dich und Kakao für mich kochtest. Wenn du wiederkamst, war ich längst schon fertig mit meiner Kette und habe kauernd auf dem Boden darauf gewartet, dass du die Enden der Fäden miteinander verknotest. Ich konnte es noch nicht. War noch viel zu klein! Geschickt hast du dann eine Kette daraus gemacht und sie mir um den Hals gelegt und dabei immer gesagt<< jetzt bist du eine richtige kleine Dame.<< manchmal, hast du dich dann umgedreht, bist zum Schrank gegangen, hast eine der Türen geöffnet und ein paar Schallplatten mit deinen Lieblingsliedern herausgeholt, sie dann beinah ehrfürchtig aus ihrer Papierhülle gezogen und auf den Plattenteller gelegt. Und dann haben wir beide auf das erste Lied gewartet. Es war immer dasselbe Lied, das wir zu Beginn hörten. Damals wusste ich noch nicht, wer es war und warum du dieses Lied so gerne hörtest. Erst, als ich Teenager war, hast du mir dein Geheimnis verraten.  Und plötzlich konnte ich verstehen, warum du, jedes Mal geweint hast,  wenn Sascha Distel << dein Platz neben mir ist frei. << sang.  Ich mochte das Lied nicht, weil du dann immer so traurig warst. Manchmal hast du es ein zweites Mal gehört, meine Hände genommen und ich habe deine dann zaghaft gestreichelt. So richtig schön mit uns wurde es immer erst, wenn wir den lachenden Vagabunden oder den Babysitter Boogie hörten. Du hast deine Tränen weggewischt, mich an die Hände genommen und dann haben wir zwei getanzt bis wir nicht mehr konnten. Ich, mit meiner Perlmuttkette, die die ganze Zeit so schön klirrte und du hast dabei so schön und manchmal laut gelacht. Manchmal, wenn es dir nicht so gut ging, gab es keinen Faden, keine Schallplatten und auch kein Tanzen. Dann hockte ich einfach nur zu deinen Füßen, mit meinem warmen Kakao und du hast einfach nur dagesessen und aus dem Fenster geschaut oder mich dabei beobachtet, wie ich einen Knopf nach dem anderen vor mich hinlegte und nach Farben und Größe sortierte und, wenn ich keine Lust mehr dazu hatte, hast du mir schweigsam ein Buch gegeben und ich habe ebenso schweigsam mir die bunten Bilder angesehen. Sah nur selten zu dir hoch und immer nur dann, wenn ich glaubte, dass du es nicht merken würdest. Ich liebte es so sehr, zu deinen Füßen zu sitzen und auch, wenn du manchmal nicht ganz da warst, mit deinen Gedanken irgendwo weit fort, so fühlte ich mich dennoch schützend in deiner Gegenwart geborgen.

Als ich älter wurde, wurden aus unseren morgendlichen Stunden lange Nachmittage, in denen du erzähltest und ich dir zuhörte. Je älter ich wurde, desto mehr erfuhr ich von dir und deinem Leben und warum es mich gab. Manchmal wolle ich all das nicht hören, weil es mir wehtat und ich manches auch nicht verstanden habe oder verstehen wollte. Doch du hast geglaubt, wie damals, als ich mit dir Sascha Distel hörte, dass ich deine Erinnerungen mit dir teilen muss und verstehen muss, wieso du so und nicht anders gehandelt hast. Dann war ich diejenige, die plötzlich aufstand, zum Schrank ging und ein paar Schallplatten hervorholte, sie auf den Plattenteller legte, deine Hände nahm und sie ganz bewusst streichelte. Wenn Ralf Bendix seinen Babysitter-Boogie sang, sagtest du jedes Mal, dass man dir diese Platte geschenkt hatte, als ich geboren wurde und dass ich das Dankeschön – Kind für meinen Vater bin, der dich mit vier Kindern geheiratet hatte. Es machte mich nicht stolz, es machte mich auch nicht glücklich, es machte mir Angst und zusammen mit deinen Erzählungen und Erwartungen, wie ich zu sein hatte, wurde es für mich mit den Jahren zu einer schweren Last. Mit 36 brach ich mit dir, deinen Erinnerungen, deinen Erzählungen und mit der Bürde, die ich für dich getragen habe. Ich war endlich frei und du hast es nicht verstehen können. Hast mir vorgeworfen undankbar zu sein und bis in den Tod unversöhnlich geblieben. Mit ihm, deinem Tod, kamen die Erinnerungen zurück. Packte mich, wie der Teufel die Seele anpackt und riss mich mit in eine dunkle und kalte Tiefe. Die Ironie des Schicksals ist, dass ich ein paar Jahre, bevor der Mann der dich geheiratet hatte und der mein Vater gewesen war, starb, erfuhr, dass es nie eines Geschenks, weder ein materielles noch meiner bedurft hätte, um dich zu lieben. Die Liebe meines Vaters war dir immer sicher gewesen. Dass, er mich nie wollte tat weh und nahm mir von einer Minute zur anderen meine Identität. Aber es machte mir auch das Verstehen, für manche unterlassene Nähe und Zärtlichkeit, leichter. Du hast da schon lange unter der Erde gelegen und warst nur noch ein Bild in meinem Kopf, ein grauer Gedanke, über den ich mit meiner Therapeutin sprach, wenn es mir so verdammt schlecht ging und ich nicht bereit war, dir oder ihm zu verzeihen und ich, an dem Gefühl undankbar gewesen zu sein beinahe verzweifelte. Ich glaube, du hast nie begriffen, wie sehr ich dich geliebt habe und wie weh du mir getan hast, als du sagtest, du hättest keine Tochter mehr, nur, weil ich mein Leben lebte. Meine Erinnerungen an die Zeit mit dir, klebten viele Jahre, wie Honig in meine Eingeweide und ließen mich gleichermaßen Liebe, Schmerz, Sehnsucht und Hasse dir gegenüber empfinden.

Gestern bin ich gefragt worden, ob ich dich für psychisch krank hielt? Ich habe darauf keine Antwort gewusst. Ich bin dir nicht mehr böse, nicht mal gram oder hege noch so etwas wie Zorn gegen dich. Du warst ein Kind deiner Zeit und hast es einfach nicht besser gewusst. Hast nicht verstanden, warum es manchmal so schwer war dein Kind zu sein und, warum deine Ansprüche an uns viel zu hoch und wir nie perfekt genug waren. So sehr du uns auch aus deinem Leben erzählt hast, wir hätten es nicht ändern können, konnten dir nicht die Hilfe sein, die du so sehr nötig gehabt hättest.

Ich habe mich als Kind und auch später oft gefragt, warum du stundenlang am Fenster sitzen konntest und stumm hinausgesehen hast. Heute weiß ich es und ich denke, es ist gut, dass ich endlich nach so langer Zeit begreife und dich verstehen kann.

Du warst ein Leben lang eine Suchende. Irgendwo da draußen suchtest du nach deiner verlorenen Kindheit und Jugend, nach deinen unerfüllten Träumen und nach deiner Liebe, die du so jung verloren hattest. Vor lauter Suche hast du jedoch nie begriffen, dass dein Glück direkt vor deinen Füßen lag. Vielleicht hast du es am Ende deines Lebens selbst gewusst und manches vielleicht sogar bereut? Ich weiß es nicht! Die Gelegenheit darüber zu reden, die hatten wir beide nicht mehr.

Ich würde heute gerne noch einmal mit dir zusammensitzen. Nicht, wie damals, als ich zu deinen Füßen gesessen bin, vor mir eine Kiste mit bunten Knöpfen, die ich nach Größe und Farbe sortiert habe und immer dann zu dir sah, wenn ich dachte, du siehst es nicht. Ich würde uns einen Kaffee kochen und dann mit dir stundenlang am Fenster sitzen und über uns reden, mit dir nochmals deinen Weg gehen, mit dir deine Erinnerungen teilen und dich trösten, wenn du Trost brauchst. Und ganz sicher, würde ich erneut deine Hände halten, wenn Sascha Distel sein Lied singt. Nicht ängstlich und kindlich betroffen, sondern, mit dem Mut des Verstehenden, der Kraft einer erwachsenen Tochter und dem Wissen, dass wir uns trotz alldem lieben.

Vielleicht sollte ich diese Zeilen nehmen, sie an einen Luftballon binden und hoffen, dass du sie irgendwo da oben lesen kannst.

Nur, wer verzeihen kann, ist wirklich frei………………….

Ich  bin es heute und für alle Zeiten.

 

  

 

 

 

   

 
 
 
 
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